Zwei Bootsbau-Azubis und ihr verrücktes Projekt - dhz.net

2023-02-16 16:18:41 By : Ms. Jane Bian

Zwei Bootsbau-Azubis haben aus dem Wrack einer alten Holz-Jolle ein kleines Schmuckstück gemacht. Auf dem Wasserweg sind sie damit von ­Friedrichshafen bis zur Berufsschule nach Travemünde geschippert. Über ein Jahr für die "Alte Liebe", 4.000 Arbeitsstunden und das Gefühl, wenn der erste Windstoß auf die Segel der selbst restaurierten Jolle trifft.

Die Yachten halten Winterschlaf. Unter Planen sind sie im Hof des Württembergischen Yachtverbands aufgebockt, erstarrt bis zum nächsten Frühjahr. Nur die "Alte Liebe" steht offen da, winzig neben den hoch aufragenden Ungetümen.

Clara Böckenhoff spritzt die hölzerne Jolle ab. Sie ist Auszubildende in der Michelsen Werft, einem Traditionsbetrieb, der an den Yachtclub angrenzt. Zehn Menschen arbeiten hier, Böckenhoff ist eine der fünf Auszubildenden.

Die junge Frau mit der roten Fischermütze reibt das Deck der "Alten Liebe" trocken. Das Holz glänzt matt in der kalten Märzsonne, ein Schmuckstück inmitten der eingepackten Boote.

Noch vor einem guten Jahr war die "Alte Liebe" ein Wrack und in der Friedrichshafener Werft nur im Weg. "Ich wollte sie zersägen. Sie zu restaurieren wäre für uns viel zu teuer gewesen", erklärt Karsten Timmerherm. Der 34-jährige Bootsbaumeister hat erst 2020 die 100 Jahre alte Werft von seinem Ausbilder übernommen. Nun hätte er mindestens 80.000 Euro in die H-Jolle stecken müssen – ein Preis, den kein Käufer hinterher dafür bezahlt hätte.

Doch zum Zersägen war die Jolle viel zu schade, fanden Böckenhoff und ihr Mit-Azubi Paul Winter. "Und wir hatten Bock auf ein Projekt", erinnert sich die 22-Jährige. Also trafen sie eine Abmachung. Timmerherm gab ihnen die Jolle, sie durften in ihrer Freizeit die Werkstatt nutzen und der Chef gab ihnen ein Jahr Zeit, um das Boot zu restaurieren. Zwei Azubigenerationen waren bereits an der Aufgabe gescheitert, Timmerherm warnte: "Ihr müsst dranbleiben."

Und das taten sie. Denn im Arbeiten entwickelten die Azubis ein zweites Projekt: Mit dem eigenen Boot zu Paul Winters Gesellenprüfung nach Travemünde. "Unsere Klassenkameraden aus dem Norden kommen oft mit dem Boot zur Schule. Wir dachten uns, das kriegen wir auch hin", sagt der 23-Jährige lachend. 1.300 Kilometer auf dem Wasser trennen Friedrichshafen vom Priwall, wo die Landesschule für Bootsbauer liegt. Spätestens zum Jahresende mussten sie also los, um pünktlich zur Prüfung am 10. Januar anzukommen.

"Als wir das entschieden hatten, gab es keinen Tag mehr, an dem wir nicht an dem Boot gearbeitet hätten", sagt Böckenhoff. Jede Minute ihrer Freizeit steckten sie in die Jolle, in Summe mindestens 4.000 Stunden. Eine befreundete Lieferfirma war von dem Projekt so angetan, dass sie nicht nur kostenlos Material, sondern auch einen Aktionsstand auf der Messe Interboot stellte. "Dort arbeiteten wir an der Jolle weiter und konnten gleichzeitig Kontakte knüpfen", erklärt Winter, wie wichtig die Messe für das Projekt war. Denn die Azubis brauchten Sponsoren: Holz, Beschläge, Motor, Kleber, Lacke und Epoxid, auch winterfeste Segelkleidung und logistische Hilfe waren vonnöten. Reihenweise verschickten sie Mails an potenzielle Geldgeber und stießen auf diese Weise auch ein zusätzliches Azubi-Projekt in Hamburg an: Die Segelmacher-Azubis von Clownssails nähten das Tuch für sie.

In ihrer Werft am Seemoser Horn bekamen Böckenhoff und Winter immer mehr Unterstützung. "In dem letzten halben Jahr war hier feierabends fast mehr los als tagsüber", bestätigt Timmerherm. "Das war eine richtige Euphorie." Ständig seien Freunde und Helfer zugegen gewesen, um Hand anzulegen. Denn die Arbeit entpuppte sich als sehr herausfordernd. "Viele Dinge hatten wir noch nie vorher gemacht. Es gab keine Konstruktionspläne, die Jolle stammt ja aus den 50er Jahren. Und große Teile des Bootes fehlten einfach", beschreibt Böckenhoff ihre Probleme. "Wir haben uns also Fotos aus der Zeit angesehen und ausprobiert, was funktioniert." Dieses Learning by doing kostete viel Zeit und bis zum letzten Augenblick war nicht klar, ob sie rechtzeitig fertig würden.

Doch am 30. Dezember legten sie ab. "Ein Boot selbst zu bauen und dann damit zu segeln, das ist einfach schön. Dieser Moment, wenn der erste Windstoß auf die Segel trifft!“, beschreibt Böckenhoff ihre Begeisterung, als es auf dem Bodensee losging. Zwar mussten sie in Sipplingen die "Alte Liebe" wieder an Land ziehen und nicht schiffbare Passagen des Rheins umfahren. Ab Weißweil ging es dann aber für 600 Kilometer zurück auf den Hochwasser führenden Fluss. Segel brauchten die Azubis hier nicht, wohl aber den Motor, um mit bis zu 20 Stundenkilometern Brückenpfeiler und die berüchtigte Loreley sicher zu passieren.

Immer abschnittsweise informierten sie sich über das vor ihnen liegende Revier, über Windverhältnisse, Strömungen oder Schleusen. Auch in dieser Phase profitierten sie von den Kontakten, die sie auf der Messe geknüpft hatten. Denn obwohl sie von einem Sponsor mit warmer Schiffskleidung ausgestattet worden waren und die Nächte an Deck verbringen wollten, waren sie bei winterlichen Temperaturen froh um viele Übernachtungsangebote aus dem Kreis des Motoryachtverbands.

In Wesel verließen die Azubis den Rhein und schipperten nacheinander durch den Wesel-Datteln-Kanal, den Dortmund-Ems-Kanal und zuletzt den Mittellandkanal. "Auf dem Rhein war immer etwas zu tun, aber auf den Kanälen wurde es langweilig, zusätzlich war es kalt und nieselte", gibt Böckenhoff zu. Auch die Zeit bis zum Prüfungsbeginn in der Berufsschule wurde knapp. Deswegen ließen sie sich in Bramsche von einem Freund abholen und zogen die "Alte Liebe" auf dem Trailer nach Lübeck. Die letzten Kilometer bis zur Schule allerdings bewältigten sie wieder auf eigenem Kiel.

Paul Winter bestand seine Prüfungen – mit Noten, die bei mehr Lernzeit hätten besser sein können. Aber er bereut nichts: "Ich habe mit dem Projekt ganzheitlich gelernt, viel mehr, als wenn ich stupide gepaukt hätte. Allein das Drumherum, das Sponsoren finden, die Vermarktung, der Umgang mit Medien, die über uns berichteten, das war eine einmalige Chance." Auch Ausbilder Timmerherm ist vom Mehrwert dieses Azubi-Projekts überzeugt: "Was die beiden da gelernt haben, kann keine Ausbildung abdecken. Ein Boot von A bis Z zu bauen, zu kalkulieren, wann ich welches Material brauche, wie lange was zum Trocknen braucht – all das ist nicht Gesellen-, sondern eher Meisterniveau."

Die Bootsbau-Azubis haben ihre Reise im Video-Blog dokumentiert, anzusehen unter der Seite von Motorboot online.

Bis 2011 war der klassische Bootsbauer ein Monoberuf. Er umfasste alle Aufgaben vom Herstellen von Bootsrümpfen und Decks über den Deckaufbau bis hin zum Einbau der technischen Geräte und Anlagen und war damit extrem vielseitig. Bootsbaumeister Karsten Timmerherm von der Friedrichshafener Michelsen Werft erinnert sich an den Ausspruch seines Ausbilders nach seiner ersten Ausbildungswoche: „So, jetzt haben wir das erste Ausbildungsjahr von den Kraftfahrzeugmechanikern durch.“

Doch in den vergangenen Jahren hat im Wassersport ein Wandel stattgefunden, der auch zu einem Wandel im Berufsbild geführt hat. „Vor 15 Jahren lag das Verhältnis von Segel- zu Motorbooten noch bei 40 zu 60 Prozent. Heute ist es etwa bei 20 zu 80 Prozent“, erklärt Timmerherm. Segeln sei heute für viele Wassersportler zu zeitaufwändig und zu wenig kalkulierbar, da man viel stärker von der Witterung abhängig sei als mit Motorbooten.

Somit bekam der Einbau, die Reparatur und die Wartung von technischen, elektrischen und elektronischen Komponenten immer mehr Gewicht im klassischen Bootsbau. Deswegen wurde die Ausbildung 2011 in zwei Fachrichtungen aufgespalten:  Einerseits den Neu-, Aus- und Umbau, andererseits die Technik.

Dennoch sei der Bootsbau auch heute noch extrem vielseitig, findet Timmerherms Auszubildender Paul Winter: „Der Bootsbau ist einfach genial, wenn man von allem etwas sehen will“, erklärt der 23-Jährige. Bootsbauer müssten eine enorme Bandbreite an Materialien be- und verarbeiten können: Holz, Kunststoffe, Kohlefaser, Glasfaser, Stahl, Aluminium, Lacke und Kleber. Der Innenausbau der Boote verlangt zudem Kenntnisse im Heizungsbau oder im Umgang mit Sanitäranlagen.

Bisher konnte Ausbilder Timmerherm in der Michelsen Werft immer alle Ausbildungsplätze besetzen. „Allerdings bleiben hinterher nicht viele bei uns hängen“, gibt er zu. Sehr viele wollen nach der Ausbildung noch studieren, so auch Paul Winter und Clara Böckenhoff, die damit die Michelsen Werft wieder verlassen werden.

Knapp zwei Drittel der Auszubildenden im Bootsbauerhandwerk haben Abitur oder Fachabitur, ein Drittel den mittleren Schulabschluss. Zum 31. Dezember 2020 zählte das Bootsbauerhandwerk gut 470 Auszubildende (Statistik des Bundesinstituts für Berufsbildung). Nur 63 Frauen waren unter diesen Auszubildenden.  bst

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