Heidekreis – „Kannst du nicht für meinen Neffen den Weihnachtsmann spielen?“ Mit dieser Frage fing vor etwa 25 Jahren alles an. Es war der Startschuss für eine bis heute andauernde Karriere mit überaus günstigen Arbeitszeiten. Nur einmal, maximal dreimal im Jahr werden der rote Mantel, der Bart, die Perücke und viele weitere Utensilien ausgepackt und Familien besucht. Ein Job, der riesigen Spaß macht, wenn auch nicht immer alles glatt läuft. Zum Beispiel, wenn ein Ärmel Feuer fängt, die Geschenke vertauscht werden oder auf dem Rasen hinterm Haus eine Rolle rückwärts gemacht wird.
Ganz zu Beginn der Laufbahn als Weihnachtsmann musste erst mal ein Kostüm her. Das gab es recht günstig in einem Baumarkt: Filzmantel, Mütze und ein sehr einfacher Bart, der mit gut sichtbaren Gummilitzen an den Ohren befestigt wurde und irgendwie am Kinn rumschlackerte. Dazu ein Jutesack, eine rote Jeans, braune Stiefel und eine selbst gemachte Rute. In diesem aus heutiger Sicht eher bemitleidenswerten Outfit ging es am Heiligabend auf Tour.
Beim allerersten Auftritt war der Weihnachtsmann wohl noch wesentlich nervöser als das Kind. Ausgestattet mit einem Zettel von den Eltern, auf dem Misse- und Wohltaten notiert waren, ging es los.
„Warst du denn auch immer artig?“, „Kannst du ein Gedicht aufsagen?“, Standardfragen, die einfach dazugehören – dachte ich zumindest. Und so manches Kind hatte sich in den Folgejahren lieber unter der Treppe oder im Besenschrank versteckt, als dem weißbärtigen Mann zu begegnen.
Aber die Auftritte kamen gut an, sodass die Fahrten an den Heilgen Abenden immer länger dauerten – der Mund-Propaganda sei Dank. Fünf, sechs Kinder galt es zu besuchen und zu beschenken. Und nicht nur die. Im Jutesack befanden sich regelmäßig auch Päckchen für Omas, Opas und die Eltern.
Die Verteilung dieser Geschenke ist an sich kein Problem, vorausgesetzt, sie sind korrekt beschriftet.
Wenn zum Beispiel „Mama“ auf dem Geschenkpapier zu lesen ist, kann es sowohl die Dame des Hauses als auch deren Mutter sein. So kam es bei einer Bescherung, dass sich die Erwachsenen eine gefühlte Ewigkeit lang die Pakete hin und her reichten, bis jeder endlich das passende Präsent in Händen hielt. Zu allem Übel wollte der Hausherr für die richtige Stimmung sorgen und schaltete spontan das Radio ein.
Statt Weihnachtsmusik kamen allerdings die Nachrichten. Da fiel es auch nicht weiter ins Gewicht, dass der Hausherr den Weihnachtsmann stets mit Vornamen ansprach. Die Kinder hatten es nicht bemerkt.
Bei einem späteren Auftritt wurde einem Kind ein Geschenk über den mit Kerzen festlich gedeckten Tisch gereicht. Dabei fing der Filzärmel des Weihnachtsmanns Feuer – was diese Veranstaltung im wahrsten Sinne des Wortes zu einer schönen Bescherung werden ließ. Dem Himmel und einem Glas Wasser sei Dank wurde niemand verletzt.
Im Laufe der Zeit wurde das Spiel bei den Auftritten immer sicherer, und auch das Kostüm wurde nach und nach leicht verbessert. Unter den Mützensaum wurde Watte geschoben und die Gummilitze des Bartes unter Watte versteckt. Zwar sah man damit irgendwie aus wie ein Schaf unter Starkstrom, aber es ging in Sachen Outfit immerhin voran.
Ein Problem waren oft die Geschenke. Meistens verstecken die Eltern im Carport oder in einem Schuppen Pakete, die der Weihnachtsmann in seinen Sack stopft und schließlich mit allem zur Haustür schreitet. Manche Zeitgenossen verwechseln den alten Mann aber offensichtlich mit einem Kraftsportler, denn wenn sich im Schuppen eine Kinderküche, das große Barbie-Traumhaus und ein XXL-Schaukelpferd befinden, wäre selbst Arnold Schwarzenegger in besten Zeiten an seine Grenzen gekommen.
So kam es bei einem Auftritt, dass es fast unmöglich war, den völlig überladenen Sack auch nur einen Zentimeter anzuheben. Noch nicht im Blickfeld der Kinder, konnte der Weihnachtsmann ihn hinter sich herziehen, aber als der Nachwuchs am Fenster in Sichtweite kam, musste das Ding irgendwie auf die Schulter. Am besten mit reichlich Schwung.
Gedacht, getan. Die Fliehkraft war aber schließlich dermaßen stark, dass der Weihnachtsmann auf dem Rasen eine Rückwärtsrolle vollführte und hinterher so aussah, als wäre er direkt durch einen Wirbelsturm gelaufen.
Jedes Jahr wurde in der Folgezeit am Kostüm gearbeitet. Eine Filzhose wurde angeschafft, dazu ein besserer Bart und eine Perücke. Auch weiße Handschuhe und geliehene Feuerwehrstiefel kamen hinzu. Wichtig war, dass man kein Stück am Körper trug, an dem man von den Kindern identifiziert werden konnte. Das ist wohl die größte Angst, die den Weihnachtsmann Jahr für Jahr begleitet: erkannt zu werden.
Ein Ring, die Stimme, eine Brille – all das kann den alten Herrn auffliegen lassen, wenn die Kids den ersten Schrecken überwunden haben und genau hinschauen. Deswegen galt für die Bescherungen stets das Gleiche wie für einen Banküberfall: rein, Action und ganz schnell wieder raus!
Die Auftritte wurden immer mehr und schon bald war der Weihnachtsmann am Heiligabend von Mittags bis 20, 21 Uhr auf Tour. Ein harter Job, der vollste Konzentration verlangt. Nicht auszudenken, wenn man beispielsweise ein Kind mit falschem Namen anspricht oder lobt, dass es ganz toll reiten kann, es in Wirklichkeit aber ein Fußballer ist.
Nicht selten reichte der 24. Dezember nicht aus, um alle Kinder zu besuchen. So kamen der erste und zweite Weihnachtstag hinzu. Dann hatten die Kids zwar längst ihre Geschenke, aber der Weihnachtsmann kam „noch einmal“ vorbei, um sich zu erkundigen, ob alles richtig war.
Mit fortschreitender Zeit wurde das Kostüm nahezu perfektioniert. Heute trägt der Weihnachtsmann ein sündhaft teures, aus Jacke, Hose und breitem Gürtel bestehendes Kostüm, eine Langhaarperücke und glänzende Stiefel. Als Accessoires dienen eine dicke Handglocke und ein mit kleinen Glöckchen behängter Stab. Auch der Rauschebart wurde professionalisiert, soll aber so schnell wie möglich durch ein Echthaar-Exemplar, das mit Mastix-Kleber am Kinn befestigt wird, ersetzt werden, um die Mimik besser sichtbar zu machen. Ein kostspieliges Unterfangen.
Eines der wichtigsten Utensilien ist das glitzernde, goldene Buch, in welches die guten und nicht so guten Taten der Kinder vor der Tour sorgsam in großer Schrift gut lesbar eingetragen werden. Das ist unheimlich wichtig, denn in einigen Stuben ist es zur Bescherung gemütlich schummrig. Und wenn man dann seine eigene Schrift nicht lesen kann, bekommt man ein Problem.
Ein ähnliches Problem taucht auf, wenn im Wohnzimmer tropische Temperaturen herrschen und der Mann im kuscheligen Dress kräftig ins Schwitzen kommt. Dann kann es passieren, dass die Schminke, die längst nicht mehr fehlen darf, mit dem Schweiß in die Augen rinnt und brennt wie Feuer.
Die allerwichtigste Veränderung im Laufe der Jahre aber betrifft nicht das Aussehen, sondern das Wesen und das Spiel des Weihnachtsmannes. Eine Rute gehört längst der Vergangenheit an. Genauso wie die Frage, ob die Kinder denn auch immer brav waren. Selbst Erwachsene würden schlichtweg lügen, wenn sie darauf mit „ja“ antworten. Was sollen dann erst die Kinder sagen?
Kommt der Weihnachtsmann ins Haus, ist er erst mal der Star, steht im Mittelpunkt. Aber das soll gar nicht sein. Die Kunst ist, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen und es sanft in den Mittelpunkt des Geschehens zu schieben. Nur darum geht es. Die Kleinen sollen von sich erzählen und – wenn sie Lust haben – ein Gedicht aufsagen oder ein Lied singen. Die meisten haben Entsprechendes in Schule oder Kindergarten gelernt und sind stolz wie Bolle, wenn sie es freiwillig vortragen dürfen.
Ganz wichtig ist auch, dass die guten Taten der Kids laut herausposaunt werden, damit alle sie hören können. Die nicht ganz tollen Dinge werden anschließend in ruhigem Tonfall flüsternd „unter vier Augen“ besprochen. Auf gar keinen Fall soll ein kleiner Schatz vor Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten bloßgestellt werden. Das ist ein absolutes No go. Ist alles besprochen, wird der Deal mit einem High Five besiegelt und die Geschenke können verteilt werden.
Es gibt für den Weihnachtsmann fast nichts Schöneres, als Rückmeldungen zu bekommen, in denen es heißt, dass der kleine Thorben sich seit Heiligabend mit Freude regelmäßig die Zähne putzt oder sein Zimmer aufräumt. Das wird nur noch dadurch getoppt, wenn ein süßer Fratz den bärtigen Besucher zum Abschied kräftig drückt und sagt: „Ich hab dich lieb, Weihnachtsmann.“
Und genau das ist es, was Santa immer wieder aufs Neue motiviert und antreibt. Geld hat er für seine Touren in all den Jahren nämlich nie genommen. Die meisten großen Menschen bedanken sich mit Präsenten wie Schokolade oder einer Flasche Wein.
Seit einigen Jahren beschränken sich die Auftritte nicht nur auf Familien am Heiligabend. Weihnachtsmärkte, Sportvereine, Krankenhäuser und Seniorenfeste werden im Dezember ebenso besucht.
Nur in diesem Corona-Jahr ist alles anders. In der Adventszeit wurden alle möglichen Veranstaltungen abgesagt und für den 24. Dezember gelten besondere Regeln.
Nach einem Anruf beim Ordnungsamt wurde deutlich, dass der Weihnachtsmann nicht in die Häuser, nicht einmal aufs Grundstück darf, wenn sich dort mehr als ein Hausstand aufhält.
Sollen die Bescherungen deswegen ausfallen? Keineswegs!
Wie immer wird sich der Bärtige die zuvor von den Eltern versteckten Geschenke in seinen Sack stecken und damit am Gartenzaun warten. „Ganz zufällig“ werden Eltern und Kinder dann an einem Fenster stehen und ihn dabei beobachten, wie er den Sack über den Zaun hievt.
Mit Sicherheit wird anschließend noch auf Distanz das eine oder andere Wort gewechselt. Für die Kinder war 2020 nun wirklich auch kein einfaches Jahr, und sie sollen sehen, dass wenigstens auf den guten alten Weihnachtsmann Verlass ist. Dass er sie nicht hängen lässt.
Außerdem: Dem alten Mann im roten Mantel würde ohne die immer wieder schöne Tour am Heiligabend auch etwas fehlen. Sehr sogar!